Olesya Lemish. Lebensporträt

Ich wurde in der Sowjetunion geboren und heimlich getauft.

«Ich wurde in der Sowjetunion geboren und heimlich getauft.»

Olesya Lemish aus Kiew lebt seit 2022 mit ihrer Tochter in Einsiedeln. Sie erzählt dem Einsiedler Anzeiger, wie sie mit ihrer Familie Weihnachten feiert und was die Annahme des gregorianischen Kalenders durch die ukrainische Kirche für sie bedeutet.

Wie wichtig sind Kirche und Religion für Sie persönlich?

Für mich und meine Tochter ist Religion wichtig. Da ich noch in der Sowjetunion geboren wurde, taufte man mich heimlich. Doch mein Vater fehlte an der Taufe, weil er Parteimitglied war. Als ich zwanzig Jahre alt war, begann ich, mich bewusst mit der orthodoxen Religion auseinanderzusetzen und die Kirche zu besuchen. Für meinen Mann ist die Kirche weniger wichtig, aber wir versuchen immer, einen Kompromiss zu finden.

Feiern Sie Weihnachten, und wenn ja, wann?

Natürlich feiern wir Weihnachten, das wichtigste kirchliche Fest neben Ostern. Bis jetzt haben wir Weihnachten immer nach dem julianischen Kalender am 6./7. Januar gefeiert. Am 25. Dezember hat unsere Tochter Geburtstag, darum war an diesem Tag sowieso immer ein Fest mit Kirchenbesuch der ganzen Familie. Nach dem Kriegsausbruch und nach der offiziellen Kalenderumstellung feiern schon jetzt 60 bis 70 Prozent der ukrainischen Orthodoxen am 24./25. Dezember, so wie bisher in der Westukraine. Wie feiern Sie Weihnachten, welche Traditionen pflegen Sie? Am Heiligabend versammelt sich unsere Familie, die Kinder bekommen von ihren Paten Süssigkeiten geschenkt. Danach es-sen wir die traditionellen zwölf orthoxen Fasten-Gerichte. Dazu gehört «Kutja», das ist Buchweizen- Grütze mit Mohn, Früchtekompott und Honig. Dazu betet man das Vaterunser. Am Weihnachtsmorgen gehen ich und meine Tochter in den Gottesdienst mit Beichte und Abendmahl. Danach tragen die Kinder grosse Sterne durch die Strassen. Sie gehen von Haus zu Haus, wünschen Glück und Segen und singen Weihnachtslieder. Diesen Brauch nennt man «Koljada», so wie das Weinachtsprogramm des Chors, in dem ich hier in Einsiedeln mitsinge und der kürzlich im Grossen Saal des Klosters aufgetreten ist. Tritt Ihr Chor auch öffentlich auf?

Mittlerweile gibt es in Einsiedeln und anderen schweizer Orten solche Chöre. Gemeinsam treten wir im Rahmen des Chorprojekts «Perespiv» auf. Unser Chor wurde gegründet, um den Schweizern die ukrainische Kultur vorzustellen. Gleichzeitig können traumatisierte Personen darin menschlichen Beistand fin-den und mit Hilfe der Musik die Kriegsschrecken überwinden. Feiern Sie Weihnachten in der Schweiz anders? Hier feiern wir Weihnachten zusammen mit Menschen der verschiedenen Kirchen in Einsiedeln, die uns gegenüber sehr of-fen und tolerant sind. Aber ich bin sehr froh, dass es mittlerweile auch eine ukrainisch-orthodoxe Kirche in Zürich gibt, die ich besuchen kann. Hat der Wechsel der ukrainischen Kirche zum gregorianischen Kalender etwas für Sie verändert? Für mich ist das neue Weihnachtsdatum nur eine Zahl, die nichts ändert an meinem Glauben. In unserer Familie feiern wir momentan beide Weihnachten, aber mein Mann hat schon gesagt, dass er auch auf den neuen Kalender umstellen möchte. Es ist ein Zeichen dafür, dass wir unabhängig sind von Moskau und zu Europa gehören.

In der Sowjetunion war das Neujahrsfest sehr wichtig – wie ist es heute? Für uns ist Neujahr ein weltliches Fest, an dem wir uns mit Freunden treffen und feiern. Und wann gibt es Geschenke?

Im Unterschied zu Russland, wo der sowjetische «Väterchen Frost» zum Neujahr kommt, kriegen die Kinder in der Ukraine die Geschenke am St. Nikolaustag, der früher am 19. Dezember und neu wie hier am 6. Dezember gefeiert wird. Den braven Kindern legt man Süssigkeiten unter das Bettkissen, den frechen eine Rute. In den letzten Jahren gab es in der Ukraine auch kirchliche Konflikte – was bedeutet für Sie Kirchenpolitik? Kirche und Politik sollten, wenn möglich, getrennt sein, aber nur im Kloster kann man sich völlig von der Politik fernhalten. Darum ist es wichtig, dass zwischen den beiden Dingen eine Balance besteht. Wenn die Politik die Kirche beeinflusst, sollte es zum Nutzen der Menschen sein und nicht wie in Russland, wo die Kirche für die Kriegspolitik instrumentalisiert wird.